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Liäbi Schweiz,

Was haben wir nicht alles gelernt in diesen wenigen Wochen, es sind ja tatsächlich nur wenige Wochen, vier zu Beginn, dann wurden es sechs, und bald zählen wir in Monaten — dennoch dünkt es mich, dass wir diese kurze Zeitspanne anschauen, als hätten Generationen unter uns einen ganzen Lebensabschnitt opfern müssen, nur weil sie in China Fledermäuse essen, doch so schlimm erging es uns nicht, für unsereins Verhältnis, da wir den grossen Krieg nur aus Geschichtsbüchern kennen, darf man unseren angepassten Alltag schon ein wenig relativieren, noch immer hatten wir genügend zu Essen, genug Benzin, Trams, Busse und Züge, eine proaktive Regierung, 26 Kantönligeister, Wohnungen und Häuser mit Licht und Strom, sauschnelles Internet genauso wie glasklares Trinkwasser in rohen Mengen, welches wir zum mehrfach täglichen Händewaschen gebrauchen konnten und genug Geld für überteuertes Desinfektionsmittel blieb auch noch übrig, das haben wir wohl gespart, da unsere Morgenkaffis und Feierabendstangenbier ausblieben, zum Ärger der Gastronomen, Kultur und der Eventler, die alle leider einige Monate gebrauchen werden, um sich zu erholen; trotz der Misere, "Krise" mag ich es nicht nennen, dafür erging es uns Bürgern in der Schweiz am Ende, sind wir doch mal ehrlich, doch zu gut, haben auch diese Personen Dazugelernt, etwa im Warten: vor dem Volg, dem Coop, der Migros, dem Denner und allen kleinen Lebensmittelläden wir mit Erstaunen nicht nur neuentdeckt sondern überaus schätzen gelernt haben, drinnen, beim Bezahlen, auf der Post, vor der Post, an der Ampel und vor jeder Plexiglasscheibe, ja alles lief ein bisschen gemächlicher ab, es zeigt uns auf, dass der ganze Vierundzwanzigstundenstress doch nur menschengemacht ist, jetzt da wir nun auch von zu Hause arbeiten und alle irgendwie im gleichen Boot sitzen gehen wir unser eigenes Tempo und rennen nicht denen nach, die meinen es, sei ein Qualitätsausweis wenn man abends um 23 Uhr 56 eine Mail verschickt und schon um 5 Uhr 12 nachdoppelt und  Mittagessen eh nur am Arbeitsplatz gestattet sei, so ein Seich, nein, die, die die wichtigen und elementaren Jobs ausüben, das waren die Pflegenden, die Ärzte, die Pöstler, die Lehrer, die Bauarbeiter und all jene, die man sonst so gerne übersehen hat vor lauter Banken, Versicherungen und Flugzeugen am Himmel, so haben wir nun stattdessen gebackt oder gebuckt oder gebachen, wie die Wilden: Zöpfe und Bananenbrote, für uns, für die Familien, für die Älteren, für Freunde oder Nachbarn, haben geteilt, was wir selber hergestellt haben, sind raugegangen und haben den Wald wieder respektiert der uns zur Ruhe kommen lies und wenns halt doch zu ruhig wurde haben wir gratis Sport betrieben (wobei wir einzig hier nicht Dazugelernt haben, denn noch immer sitzt gofperglemmi auf jedem Tandemvelo der Mann vorne und nicht die Frau von Heute)  und uns all unserem Selbersein diebisch ja fast kindlich gefreut, genauso wie beim Tagträumen, der Königsdisziplin des Sichtreibenlassens, und das wohl auch nur, weil wir endlich wieder selber angefangen haben zu Denken, anstatt zu followen, aus purer Langeweile haben wir unsere eigenen Hirnlappen wieder auf Empfang gestellt, beobachtet, hinterfragt, genossen, gelesen, gebastelt, gemalt, gelacht und gelebt, ganz einfach gelebt, im Quartier, in der Strasse, gemeinsam in kleinen Gruppen mit auserlesenen Menschen — und das mit Präsenz, ja wir waren tatsächlich wieder präsent und nicht ständig abgelenkt, weil es da war ja nichts, dass uns hätte unterhalten können, abgesehen von Netflix, keine Events, keine Abendessen, keine vier Verabredungen pro Freitagabend, nein nichts, da war nichts, es gab keinen Neudeutschen FOMO, sondern wir waren mit jenen wenigen Menschen, die wir als unsere Liebsten betrachtet haben, verbunden, einfach so haben wir den Moment gelebt — etwas, liebe Schweiz, dass ich vermissen werde, sobald die Schleusen wieder aufgehen, und die Menschen ihrem vermeintliche richtigen Alltag wieder hinterherrennen.

Auf bald.

#0070

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